James Tiptree Jr.
Zu einem Preis
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»Zu einem Preis« von James Tiptree Jr.
Vor ein paar Jahren warb ein Schokoriegelhersteller mit dem Motto “You’ll never forget your first dime (daim)”. Ob das stimmt kann ich nicht beurteilen, denn meines Wissens nach habe ich dieses Produkt nie probiert, jedoch blieb mir der Spruch in Erinnerung. Genauso wie meine erste Geschichte von James Tiptree jr, denn auch hier kann ich sagen “I’ll never forget my first Tiptree”.
Das es gegen Ende der 60er Jahre über die Identität von James Tiptree jr. wilde Spekulationen gab ist mittlerweile wohl bekannt. Der mutmaßliche Autor war lange Zeit der große Unbekannte, plötzlich war er da, legte einige hochgelobte und bemerkenswerte Geschichten vor, hielt sich aber ansonsten vor der Öffentlichkeit versteckt. Erst nach dem Tod der Mutter im Jahr 1976 und durch die Veröffentlichung einiger Briefe trat die wahre Identität von James Tiptree jr. zu Tage. Es handelte sich um die im Jahre 1915 in Chicago geborene Alice Bradley Sheldon. 1991, also vier Jahre nach ihrem Suizid, stifteten Karen Joy Fowler und Pat Murphy, zum Gedenken an die Autorin, den James Tiptree jr. Award. Verliehen wird dieser Preis an Autoren und Autorinnen die es verstehen, die Geschlechterrolle in der SF, also die angeblich typischen Verhaltensweisen von Mann und Frau, auszuloten und eventuell auch neu zu bestimmen. Ein Thema, das Alice Sheldon immer sehr am Herzen lag und auch der Grund war, warum sie sich ein männliches Pseudonym zulegte.
Im vorliegenden Buch sind 10 Kurzgeschichten und Novellen, sowie ein paar kurze Auszüge aus ihren, Ende der siebziger Jahre, geschriebenen Briefen enthalten. Diese sind zusammengefaßt in dem Anhang -Nur die Unterschrift ist echt -. Eine weitere Geschichte des Buches, -The screwfly solution -, wurde 1977 mit dem Nebula Award für die beste Erzählung (Best Novelette) ausgezeichnet, damals unter dem nicht so bekannten Pseudonym Racoona Sheldon geschrieben. Diese Geschichte war so gut, dass sie zusätzlich für die Serie Masters of Horror im Jahr 2006 auf die Filmleinwand gebannt wurde. Season 2, Episode 7, der Regisseur war kein geringerer als Joe Dante. In ihr geht es darum, dass auf der Erde eine Art Virus ausbricht der die Männer dazu zwingt Frauen zu töten. Dieser Virus ist anfangs auf einen bestimmten Längen- und Breitengrad begrenzt, dehnt sich aber immer weiter aus. Der Forscher Alan, irgendwo in Südamerika mit Studien beschäftigt, kommuniziert brieflich mit seiner Frau Anne und erfährt so die neuesten Greueltaten die aufgrund des Virus stattfinden. Die Briefe seiner Frau klingen von Mal zu Mal ängstlicher und so entschließt sich Alan nach Hause zurückzukehren - und gerät dabei selber in den Wirkungsbereich des Virus. Eine wirklich beklemmende Geschichte, die es gut versteht mit Ängsten umzugehen und auch zu Recht ausgezeichnet wurde.
Hier zeigt sich schon wie sehr die Autorin es schafft den Leser zu berühren. Die Geschichten im Buch lassen niemanden kalt, sie rufen Emotionen hervor, egal welcher Art. Selten jedoch fröhliche oder gar heitere, obwohl es die auch schon mal gibt. In der Regel sind die Geschichten jedoch meist tragisch, melancholisch oder abgrundtief böse. Ein gutes Beispiel dafür ist -Von Fleisch und Moral -. Zwei zu Anfangs nicht miteinander zusammenhängende Handlungstränge, die um den Fahrer Hagen und der jungen Schwarzen Maylene, werden gekonnt miteinander verwoben und liefern ein Ende, das bitterböser und abschreckender nicht sein kann. Als Leser musste ich hier tief durchatmen und schwer schlucken. In eine ähnliche Richtung geht ebenso die Geschichte -Wer den Traum stiehlt -. Auch hier gibt es für die außerirdischen Flüchtlinge als sie ihr Ziel erreichen ein böses Erwachen. Das bemerkenswerte an dieser Geschichte ist das unglaublich brutale Auftreten der Menschen. Diese misshandeln, vergewaltigen und töten die Bevölkerung des Planeten wie es ihnen gefällt. Das Leben der Joilani ist ihnen kein Pfifferling wert. Die Geschichte entpuppt sich als emotionale Achterbahnfahrt des Grauens.
Leisere und leicht melancholischere Töne schlägt Tiptree in den beiden Geschichten -Coda - und -Ein Quell unschuldiger Freude - an. In der ersten Geschichte geht es um die letzten Menschen auf der Erde. Alle anderen Menschen sind durch eine Art kosmischen Strom körperlos geworden und durchstreifen nun als Bewußtsein das Weltall. Während der Junge Jakko den Ort aufsucht von dem aus er in den kosmischen Strom eintauchen kann, trifft er auf das Mädchen Peachthief. Dieses möchte die Welt nicht verlassen und bleiben. Sie möchte Kinder bekommen und als eine Art neue Eva zur Mutter der neuen Menschheit werden. Jakko erklärt sich bereit bei ihr zu bleiben, möchte aber noch einmal Kontakt mit seinem vergeistigten Vater im Strom aufnehmen um sich von ihm zu verabschieden. Beide machen sich auf zum Ort des Eintauchens, eine Reise die nicht so endet wie sie es möchten. In der zweiten Geschichte erzählt ein Raumfahrer einer Reporterin über eine Begegnung der besonderen Art. Eine Art wogender organischer Ozean, ähnlich wie in Stanislaw Lems Solaris, zeigt ihm die Liebe seines Lebens. Eine Liebe, die er jedoch von sich weisen muss, möchte er weiterleben. Beide Geschichten bestechen durch ihre sentimentale Art und durch den Verlust, das Zerplatzen eines Traumes, den alle Charaktere hinnehmen müssen. Sehr bewegend geschrieben.
In den Geschichten -Der Teilzeitengel - und -Zu einem Preis - machen alle Beteiligten Erfahrungen mit Außerirdischen. Die eine, Jolyone Schram, bekommt dabei auf eine ganz besondere Art und Weise einen Wunsch erfüllt, den sie besser nie geäußert hätte, aber die Angst vor Krieg und Überbevölkerung machen das möglich. Ein “außerirdischer Engel” versetzt, ähnlich wie bei Schneewittchen, alle Kinder einer Familie, bis auf eines, in ein Koma. Während dieses eine Kind, für einen gewissen Zeitraum, sein ganz normales Leben lebt, liegen die restlichen Kinder, ohne zu altern oder körperliche Bedürfnisse zu haben, wie tot darnieder. Die Dauer des Wachzustandes richtet sich dabei nach der Anzahl der Kinder im Haushalt. Ist die Dauer verstrichen, fällt das wache Kind ins Koma, und eines, das davor im Koma lag, wird für die gleiche Dauer wieder wach und kann sein Leben leben. Immer abwechselnd. Wohl eher die Tat eines Dämons, statt der eines Engels. In -Zu einem Preis - werden Dag und Philippa, zwei über dem Meer abgestürzte Ballonfahrer, von einem Schiff aus dem Meer gerettet. Das Schiff ist für sterbende Menschen und ihre Angehörigen gedacht, die noch einmal, fernab von jeglichem Trubel, eine letzte Reise antreten um dann in Ruhe abtreten zu können. Die “Besitzer” des Schiffes, um es mal vorsichtig auszudrücken, sind jedoch nicht so, wie Dag und Philippa sich das vorgestellt haben. Als beide hinter das Geheimnis kommen, sollen sie sterben. Diese Geschichte scheint leichte autobiographische Züge zu tragen. Geschrieben wurde sie zu einer Zeit, als sich Alice Sheldon selbst um ihren kranken und gebrechlichen Mann kümmern und ihn pflegen mußte.
In -Mit zarten irren Händen - begibt sich Tiptree wieder in die Abgründe des menschlichen Bewußtseins. Ähnlich wie in -Wer den Traum stiehlt - sind auch hier die menschlichen Raumfahrer um keinen Deut besser und vergewaltigen, schlagen und misshandeln ihre weibliche Kollegin ohne Skrupel. Als Leser läßt einen das nicht kalt, Wut kommt auf, die Emotionen kochen. Aber der Krug geht nur so lange zum Brunnen bis er bricht. Carol Page wehrt sich. Sie flieht in die Weiten des Weltalls und folgt einer Stimme die sie ruft und lockt, einer Stimme, die sie seit ihrer Jugend vernimmt. Unbestimmt und vage, aber sie wagt das Abenteuer. Auf einem Gesteinsbrocken, auf dem eigentlich kein Leben existieren dürfte, trifft sie eine ihr verwandte Seele, die Erfüllung ihrer Sehnsucht.
Ebenso auf der Flucht und auf der Suche nach Erfüllung und einem Neuanfang ist der Außerirdische Enggi in der Geschichte -Aus dem Überall -. Verfolgt von dem Fresser, einer weiteren außerirdischen Kreatur, schlägt Enggi auf der Erde auf und spaltet sich in drei Bewußtseinseinheiten auf. Einheiten, die dabei auf drei Menschen verteilt werden. Diese drei Menschen finden zueinander und ihr Leben ist fortan eng miteinander verknüpft. Das Teilen und Erforschen ihrer Erlebnisse, ihrer Wünsche und Bedürfnisse wird fortan das Ziel, des gegen Ende hin wiedererstandenen, Enggis sein.
Tja, was bleibt ist die letzte Geschichte der Sammlung -Hölle, wo ist dein Sieg? -. Eine Geschichte, mit der ich ehrlich gesagt so gar nichts anfangen kann. Sie ist weder komisch, noch tragisch, weder melancholisch noch besonders emotional berührend. Sie verstört nicht, noch ist sie unterhaltend. Es ist für mich eine eher langweilige Geschichte, wobei die Art der Gegensätzlichkeit beider darin beschriebener Länder, Ecologia-Bella und Pluvio-Acida, mich kurioserweise an die beiden fiktiven Städte Villariba und Villabajo aus der Waschmittelwerbung erinnern.
Alles in allem sind die vorliegenden 10 Geschichten aus der Schaffensperiode zwischen 1975 und 1985 typische Tiptree Romane. Typisch im Bezug auf die Themenauswahl. Hauptsächlich geht es um Sex, Tod, Liebe, Brutalität und die Beziehungen zwischen Mann und Frau in all ihren zahlreichen Facetten. Und wie bei allen Geschichten von Tiptree gilt für mich, dass ich mehr als drei hintereinander einfach nicht lesen kann. Wohlgemerkt: nicht weil sie schlecht sind, sondern vielmehr weil sie mich emotional nicht kalt lassen. Weil ich danach Abstand brauche um den Kopf wieder frei zu bekommen. Man fragt sich, wie viele ihrer so einfühlsam geschriebenen Geschichten aus ihrer Arbeit im Bereich der experimentellen Psychologie stammen mögen, ob die Geschichten ihre Art der Aufarbeitung des Gehörten von anderen Personen ist oder der Versuch mit ihren eigenen Depressionen oder Dämonen umzugehen.
Nichtsdestotrotz hat der Septime Verlag aus Österreich mit der Herausgabe der James Tiptree jr. Reihe viel Mut bewiesen. Viele der jüngeren Leser, eventuell nur an Battletech oder Star Wars gewöhnt, dürften die Autorin wohl eher nicht kennen und Kurzgeschichtenbände scheinen sowieso langsam aber sicher auch nicht mehr zeitgemäß zu sein. Das ist, wie ich finde, sehr bedauerlich. Die vorliegende Sammlung jedenfalls betrachte ich durchaus als eine gelungene Hommage an eine Autorin, die es wie keine zweite verstanden hat, den Leser in ihren Geschichten auf eine Rundreise quer durch das Universum und auf einen Trip in die menschlichen Abgründe mitzunehmen. Das Buch ist empfehlenswert und ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass der Septime Verlag sich auch anderer, leider schon fast vergessener, Autoren noch widmen wird. Es gibt noch so viele Juwelen, die wirklich wert sind, dass man sich daran (wieder) erinnert.